Zoom ins galaktische Zentrum
Forschenden gelingen bisher unerreichte Detailaufnahmen der Region um das supermassereiche schwarze Loch unserer Milchstraße
Das Herz unserer Milchstraße birgt die eine oder andere Überraschung – nicht zuletzt deshalb, weil in dieser Region ein gewaltiges schwarzes Loch sitzt. Nun hat ein Team unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik einen tiefen Blick in das galaktische Zentrum geworfen und unter anderem einen Stern entdeckt, der das Massemonster auf einer engen Bahn umläuft. Dabei nutzten die Forschenden das Instrument Gravity am Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile. Die Bilder mit extrem hoher Detailauflösung ermöglichten es zudem, das schwarze Loch so genau zu „wiegen“ wie nie zuvor und seine Entfernung zur Erde exakt zu bestimmen.
Wie lässt sich das schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße erforschen? Ein Objekt, das man – per Definition – gar nicht sehen kann? Reinhard Genzel verfolgt dazu Sterne, welche die galaktische Schwerkraftfalle namens Sagittarius A* umlaufen. Die erfolgreiche Anwendung dieser Methode brachte dem Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik den Physik-Nobelpreis 2020 ein. Jetzt hat ein Team unter seiner Leitung mit einer neuen Analysetechnik die bisher schärfsten Bilder dieser kosmischen Region gewonnen.
Die Beobachtungen erfolgten am Very Large Telescope Interferometer (VLTI) der Europäischen Südsternwarte. Dabei wird das Licht eines astronomischen Objekts, das mehrere große Spiegel empfangen, gleichsam überlagert und auf diese Weise ein virtuelles Teleskop mit 130 Metern Durchmesser simuliert. „Das VLTI ermöglicht eine unglaubliche räumliche Auflösung, und mit den neuen Bildern sehen wir tiefer als je zuvor. Wir sind verblüfft von dem Detailreichtum und davon, wie viel Aktivität und wie viele Sterne wir in der Nähe des schwarzen Lochs erkennen“, sagt Julia Stadler. Die Wissenschaftlerin arbeitet heute am Max-Planck-Institut für Astrophysik und leitete während ihrer Zeit an Genzels Institut die Datenanalyse.
Bei der jüngsten Beobachtungsreihe zwischen März und Juli 2021 konzentrierte sich das Team auf eine genaue Vermessung der Umlaufbahnen der Sterne nahe dem schwarzen Loch. Dazu gehört auch der Rekordstern S29, der sich Sagittarius A* Ende Mai mit der atemberaubenden Geschwindigkeit von 8740 Kilometern pro Sekunde (!) näherte und das Objekt in einer Entfernung von 13 Milliarden Kilometern passierte – entsprechend dem 90-fachen Abstand zwischen Sonne und Erde. Bisher wurde kein anderer Stern beobachtet, der so nahe oder so schnell am schwarzen Loch vorbeifliegt.
„Wir haben jetzt die Möglichkeit, im galaktischen Zentrum Präzisionsmessungen durchzuführen und es als Labor zu nutzen, um die Vorhersagen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie zu testen“, sagt Stefan Gillessen, der das Herz unserer Milchstraße seit den 1990er-Jahren mit verschiedenen Techniken beobachtet. Laut Gillessen existieren in der Nähe von Sagittarius A* etwa 50 Sterne mit bekannten Umlaufbahnen. „Wir haben bereits die gravitative Rotverschiebung und die Schwarzschild-Präzession gesehen, als der Stern S2 im Jahr 2018 sehr nahe an dem supermassereichen schwarzen Loch vorbeizog“, so der Max-Planck-Forscher. „Aber es gibt noch offene Fragen, etwa: Wie massereich ist es genau? Rotiert es?“
In Kombination mit den früheren Daten des Teams bestätigen die neuen Beobachtungen die Übereinstimmung mit der allgemeinen Relativitätstheorie: Demnach folgen die Sterne genau jenen Bahnen, die diese Theorie für Objekte vorhersagt, die sich um ein schwarzes Loch mit 4,3 Millionen Sonnenmassen bewegen. Mit einer Genauigkeit von 0,25 Prozent ist dies die bisher präziseste Massebestimmung von Sagittarius A*.
Den Forschenden gelang es außerdem, die Distanz zur galaktischen Schwerkraftfalle so exakt zu messen wie niemals zuvor: Demnach ist sie 27.000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Und schließlich fand das Team auch noch ganz in der Nähe des schwarzen Lochs einen bisher unbekannten Stern, der die Bezeichnung S300 bekam.
Die Messungen und Bilder der Gruppe wurden durch Gravity ermöglicht. Dieses Instrument kombiniert das Licht aller vier 8,2-Meter-Teleskope des Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte mithilfe der sogenannten Interferometrie. Die Technik ist komplex, „aber am Ende erhält man Bilder, die 20-mal schärfer sind als die der einzelnen VLT-Teleskope und die die Geheimnisse des galaktischen Zentrums enthüllen“, sagt Frank Eisenhauer vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, der leitende Forscher bei Gravity.
Um die neuen detaillierten Bilder zu gewinnen, verwendeten die Astronominnen und Astronomen zudem eine moderne Methode des maschinellen Lernens, die Informationsfeldtheorie. Sie erstellten ein Modell, wie die realen Quellen aussehen könnten, simulierten, wie Gravity sie sehen würde und verglichen diese Simulation mit den tatsächlichen Beobachtungen. Auf diese Weise konnten die Forschenden die Sterne in der Umgebung von Sagittarius A* mit einer beispiellosen Genauigkeit finden und verfolgen. Zusätzlich zu den Gravity-Beobachtungen verwendete das Team auch Daten von Naco und Sinfoni – zwei früheren VLT-Instrumenten – sowie Messungen des Keck-Observatoriums und des Gemini-Teleskops von NOIRLab.
Gravity wird derzeit weiterentwickelt, um die Empfindlichkeit weiter zu erhöhen und schwächere Sterne noch näher am schwarzen Loch zu entdecken. Ziel ist es, mit Gravity+ Sterne so nahe an Sagittarius A* aufzuspüren, dass diese auf ihren Umlaufbahnen die Gravitationswirkung von der Rotation des schwarzen Lochs spüren würden.
Das Extremely Large Telescope (ELT) der Europäischen Südsternwarte, das derzeit in der chilenischen Atacama-Wüste gebaut wird, soll es dem Team zudem ermöglichen, die Geschwindigkeit dieser Sterne in Blickrichtung zum galaktischen Zentrum mit sehr hoher Präzision zu messen. „Gravity+ und ELT zusammen werden uns in die Lage versetzen, herauszufinden, wie schnell sich das schwarze Loch dreht“, sagt Eisenhauer. „Das hat bisher noch niemand geschafft.“
HAE / HOR