Überraschung in der Milchstraße: Ionisierungsrate der kosmischen Strahlung weit niedriger als gedacht
Eine internationale Gruppe von Astrophysikern unter Führung der MPE-Forschenden Marta Obolentseva, Alexei Ivlev, Kedron Silsbee und Paola Caselli hat das seit langem bestehende Problem der Abschätzung der Ionisierungsrate im interstellaren Medium durch kosmische Strahlung neu untersucht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kombinierten Beobachtungsdaten diffuser Molekülwolken mit neuen Erkenntnissen über die Staub- und Gasverteilung in diesen Regionen und waren so in der Lage, mithilfe von numerischen Modellen die Ionisierungsrate der kosmischen Strahlung (bzw. ihre Obergrenze) für ein Dutzend nahe gelegener Wolken zu berechnen. Dabei zeigte sich, dass die bisher vermutete Rate um eine Zehnerpotenz zu hoch geschätzt wurde.
Die galaktische kosmische Strahlung (engl. cosmic rays, CRs) spielt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung von Molekülwolken. Sie steuert zahlreiche physikalische und chemische Prozesse, die praktisch alle Phasen der Sternentstehung begleiten. Der Einfluss der kosmischen Strahlung auf diese Prozesse wird anhand ihrer sogenannten Ionisierungsrate (engl. CR ionization rate, CRIR) quantifiziert, d. h. der Anzahl der von kosmischen Strahlung erzeugten Ionisationen pro Gasmolekül pro Sekunde. Der Wert dieses grundlegend wichtigen Parameters wird in der Astrophysik-Gemeinde bereits seit über einem halben Jahrhundert heftig debattiert. Die hauptsächliche Schwierigkeit besteht darin, dass die CRIR im interstellaren Medium durch eine relativ kleine Population von nichtrelativistischen CRs bestimmt wird. Im Gegensatz zu der gut untersuchter ultra-relativistischen Population gibt es keine robusten direkten Methoden solche „niederenergetischen“ Teilchen im Weltraum nachzuweisen - und sie können auch nicht auf der Erde gemessen werden, da sie durch den Sonnenwind effizient aus der Heliosphäre ausgeschlossen werden.
Die einzige direkte Methode zur Messung der CR-Energiespektren und damit zur Bestimmung der CRIR wäre der Einsatz von Raumsonden, die in der Lage sind über die Heliosphäre hinauszufliegen. Solche Messungen wurden bereits vor einem Jahrzehnt von den Voyager-Sonden 1 und 2 durchgeführt, als sie den äußersten Rand der Heliosphäre - die Heliopause - durchquerten. Dennoch repräsentiert diese einzigartige direkte Probenahme von CRs in einer Entfernung von etwa 120 AE relativ gesehen immer noch nur das äußerst lokale interstellare Medium in unmittelbarer Sonnenumgebung.
Aus diesem Grund sind indirekte Methoden das gängige Mittel, um die CRIR in den zahlreichen Molekülwolken, die uns in der Milchstraße umgeben, abzuschätzen. Solche Methoden basieren in der Regel auf der Messung der Lichtabsorption entlang der Sichtlinie zwischen dem Beobachter und einem Hintergrundstern, der die Molekülwolke von hinten beleuchtet. Die Absorption wird durch bestimmte, in der Molekülwolke durch CRs erzeugte Ionen verursacht, und sammelt sich somit entlang der Sichtlinie an. Hierbei wurden besonders Absorptionsbeobachtungen von H3+-Ionen (molekularer Wasserstoff H2, mit einem zusätzlichen Proton) viel beachtet, da dies als zuverlässigste Methode zur Messung der CRIR in diffusen Molekülwolken angesehen wurde. Der Grund dafür sind die besonders einfachen Bildungs- und Zerstörungswege dieser Ionen und die Tatsache, dass es sich bei H2 um das häufigste Molekül im Universum handelt. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass die aus diesen Messungen berechneten CRIR-Werte um mehr als das Zehnfache höher waren, als die Voyager-Daten vorhergesagt hatten!
Diese dramatische Diskrepanz war in den letzten Jahrzehnten ein großes Rätsel für die sich mit kosmischer Strahlung befassenden Forscher. Nun haben aber die sogenannten 3D-Staub-Extinktionskarten unser Verständnis der dreidimensionalen Staub- und Gasverteilung in den umgebenden Molekülwolken stark verbessert. Diese Karten wurden anhand von Entfernungen zu über einer Milliarde Sternen erstellt, die auf Parallaxenmessungen des Gaia-Satelliten basiert. Vor kurzem erreichten die hochauflösenden Karten, die von unseren Nachbarn am MPA in der Gruppe von Dr. Torsten Enßlin entwickelt wurden, eine ausreichende Genauigkeit, um eine Rekonstruktion der Gasverteilung bis hin zu Parsec- Maßstäben zu liefern. Dieser Durchbruch ermöglichte es, die einzelnen Wolken zu identifizieren, in denen die H3+-Absorption bei jeder Beobachtung tatsächlich auftrat, und somit die Positionen der einzelnen CRIR-Messungen im 3D-Raum genau zu bestimmen.
Motiviert durch diese beeindruckende Entwicklung haben die zu Beginn genannten Wissenschaftler die Analyse der verfügbaren H3+-Beobachtungen erneut aufgenommen. Sie führten 3D-Simulationen der identifizierten Wolken durch, wobei die CRIR der einzige freie Parameter des Modells war. Durch den Vergleich ihrer Ergebnisse mit Beobachtungen war es erstmals möglich, die physikalische Struktur der einzelnen Wolken selbstkonsistent zu rekonstruieren und die jeweiligen CRIR zu bestimmen.
"Eines der erstaunlichen Ergebnisse unserer Analyse ist, dass die neu berechneten Werte der CRIR um eine Größenordnung niedriger sind als die bisherigen Abschätzungen, was unsere Ergebnisse tatsächlich in Übereinstimmung mit dem von den Voyager-Sonden gemessenen CR-Spektrum bringt", sagt Alexei Ivlev, einer der Hauptautoren der Studie. "Obwohl wir natürlich nicht behaupten können, dass das äußerst lokale Voyager-Spektrum repräsentativ für ein typisches galaktisches Spektrum von CRs ist, ist es sicherlich kein Ausreißer mehr - wie es seit vielen Jahren vermutet wurde."
"Zusätzlich zu den beeindruckenden Ergebnissen der CRIR stellt diese Arbeit einen großen Fortschritt in der realistischen astrochemischen Modellierung dar. Dies sind die ersten Simulationen, die die tatsächliche Gasdichteverteilung berücksichtigen. Ich gehe davon aus, dass die Kombination astrochemischer Simulationen mit genauen Bestimmungen der Dichtestruktur und des Strahlungsfeldes in den kommenden Jahren zu vielen weiteren spannenden Ergebnissen führen wird", so Kedron Silsbee weiter.
Die Arbeit, bei der die drastische Reduzierung der CRIR entdeckt wurde, führte auch zu einer bemerkenswerten Entdeckung als "Nebenprodukt": Es wurde festgestellt, dass alle früheren Schätzungen der Gasdichte in diffusen Molekülwolken, in denen die H3+-Messungen typischerweise durchgeführt werden, stark über den aus den Extinktionskarten abgeleiteten Werten liegen. Um den Grund für diese Diskrepanz zu identifizieren, hat einer der Mitglieder der Gruppe, Prof. David Neufeld von der Johns Hopkins University, die übliche Methode zur Schätzung von Gasdichten überprüft. Diese Methode basiert auf Beobachtungen angeregter Rotationszustände von molekularem Kohlenstoff (C2) und ist somit abhängig von den Raten der C2-Anregung bei Kollisionen mit Gasmolekülen. Es stellte sich heraus, dass die für die früheren Schätzungen angenommenen Raten erheblich niedriger waren, als die kürzlich ermittelten genauen Werte, was dazu führte, dass die abgeleiteten Dichten zu hoch waren. In der begleitenden Veröffentlichung, geleitet von David Neufeld (https://physics-astronomy.jhu.edu/directory/david-a-neufeld/), präsentierten die Wissenschaftler aktualisierte Gasdichten, die nun in guter Übereinstimmung mit denen aus den Extinktionskarten sind.
"Zunächst war ich ziemlich skeptisch gegenüber den niedrigeren Dichteschätzungen, die sich aus den Staub- Extinktionskarten ergaben, weil sie nicht mit dem übereinstimmten, was wir zu wissen glaubten. Aber als ich mir die Methoden genauer ansah, die zuvor zur Auswertung der Gasdichte aus Beobachtungen von C2 verwendet worden waren, stellte ich fest, dass sie zu viel zu hohen Dichteabschätzungen geführt hatten", sagt Neufeld.
Schlussendlich haben die drastisch reduzierten Gasdichten sowie die Verringerung der CRIR tiefgreifende und vielfältige Auswirkungen. Dies wirkt sich nicht nur auf die chemische Komposition von diffusen und transluzenten Molekülwolken aus, sondern verändert auch die Entwicklung ihrer physikalischen Struktur, was schließlich weitreichende Auswirkungen auf die Anfangsphasen der Sternbildung hat.
"CRs sind grundlegende Bestandteile für die dynamische Entwicklung interstellarer Molekülwolken, aus denen Sterne und Planeten entstehen, und für die chemische Entwicklung im Weltraum, wo sich die Vorläufer präbiotischer Moleküle bilden. Daher ist es für die Astrophysik und Astrochemie von entscheidender Bedeutung, die CRIR zu kennen, und dies ist eines unserer langjährigen wissenschaftlichen Ziele", sagt Paola Caselli, Direktorin des Zentrums für astrochemische Studien am MPE. "Ich bin sehr stolz darauf, dass unsere Studie, an der auch Wissenschaftler des MPA und internationale Kollegen in einer wirklich interdisziplinären Zusammenarbeit beteiligt waren, dieses Ziel erreicht hat", fügt sie hinzu.
Diese Studien haben auch wichtige Konsequenzen für alle vorhandenen CRIR-Messungen, die verschiedene Ionisierungs-Tracer verwenden. Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass eine sorgfältige Neubewertung der bisher veröffentlichten Abschätzungen der CRIR in Molekülwolken sinnvoll wäre, insbesondere unter Berücksichtigung der jüngsten revolutionären Änderungen in unserem Verständnis der diffusen Gasverteilung in der Milchstraße.